"Wie kann ein Mann ein Lehrer sein?“ – Eine didaktische Kurzgeschichte

Das Thema „Schule“ wurde bisher nicht nur in großen Romanen wie „Professor Unrat (H. Mann) und „Unterm Rad“ (H. Hesse) – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen – auf weltliterarischem Niveau mehrfach aufgegriffen, sondern es hat auch in kleinere Gattungen wie Kurzgeschichten und Erzählungen Eingang gefunden.  

Bekanntlich zeichnen sich Kurzgeschichten – zumindest gute Kurzgeschichten – dadurch aus, dass sie die Leserin oder den Leser auf sehr subtile Art und Weise über das Geschilderte, oftmals eine alltägliche Konfliktsituation, tiefer nachdenken lassen. Beispielhaft dafür scheint mir die 1966 erschienene Kurzgeschichte „Schule im Jahr 2157“ von Isaac Asimov zu sein.

Das ironisch-sarkastische Gespräch über ein altes Buch, das der Autor zwischen dem elfjährigen Mädchen namens Marie und dem dreizehnjährigen Jungen Tommy inszeniert, offenbart  den vorausschauenden Charakter eines sprachlichen Kunstwerkes. Marie notiert in ihr Tagebuch, dass Tommy „ein richtiges Buch gefunden“ habe und stellt diesem wenig später die Frage, die jedes neugierige Kind in ihrem Alter auch heute stellen würde: „Wovon handelt es?“.

Doch über Tommys Antwort, das Buch handele von „Schule“, ist Marie regelrecht entsetzt: „Was kann man denn schon über die Schule schreiben?“, fragt sie ihren Freund und fügt hinzu: „Warum sollte jemand über die Schule schreiben?“ Tommy, der sich ihr überlegen fühlt, erzählt ihr dann in einem nahezu arroganten Ton von der Art Schule, “ wie man sie vor Hunderten von Jahren hatte.“ Obwohl Marie sich nicht recht vorstellen kann, was diese Art von Schule ausmachte, stellt sie, nachdem sie eine Weile in dem alten Buch mitgelesen hat, fest: „ Jedenfalls hatten sie auch einen Lehrer.“

In dieser auf den ersten Blick lapidaren Feststellung nimmt das Gespräch der beiden Kinder eine für die Kurzgeschichte typische unerwartete Wendung, die durch Tommys Replik: „Sicher hatten sie einen Lehrer, aber es war kein richtiger Lehrer. Es war ein Mann“, vorbereitet und schließlich von Maries durchaus irritierende Frage: „Ein Mann? Wie kann ein Mann ein Lehrer sein?“, deutlich zugespitzt wird.

Eigentlich wollte ich diesen Artikel hier beenden, um diese Frage, die mir den Titel für den Artikel geliefert hat, als Denkimpuls zu exponieren. Aber ich möchte dem Leser die  Begründung Maries nicht vorenthalten, schließlich ist sie an Sarkasmus kaum zu übertreffen: „Ein Mann ist dafür nicht klug genug.“ – Der Leser könnte geneigt sein, hier eine  Genderdiskussion avant la lettre zu vermuten – Eine solche Vermutung wäre zwar legitim, würde jedoch m.E. den Kern des Problems verfehlen. Es geht um etwas viel Wichtigeres, nämlich um die Frage, was „man“ heute mindestens wissen muss, um effizientes Lernen im Klassenzimmer und außerhalb des Klassenzimmers ermöglichen zu können.

Ganz nebenbei gibt Marie, die sich in dieser Kurzgeschichte nicht nur durch eine einfache und luzide Sprache auszeichnet, sondern auch extrem sympathische Charakterzüge verkörpert, die Antwort auf diese Frage:  „[…] meine Mutter sagt, ein Lehrer muss genau für den Jungen oder das Mädchen eingestellt werden, die er lehrt, weil die Kinder im Lernen ganz verschieden sind.“

Gewiss spricht Marie ihre Mutter zitierend eine Wunschvorstellung aus, die uns noch als ideal vorkommen mag, ihren Worten liegt aber eine lernpsychologische Erkenntnis zugrunde, die es heute didaktisch und methodisch zu implementieren gilt: Kinder sind im Lernen ganz verschieden. Darauf müssen wir uns in unserem Beruf als Lehrer einstellen. Und dieser Verschiedenheit können wir nur dann gerecht werden, wenn wir nicht das Fach, das wir unterrichten, sondern den Menschen, d.h. die Lernerin oder den Lerner als Individuum in den Mittepunkt des Lernprozesses stellen, den wir jeden Tag neu initiieren und steuern müssen. Die Fokussierung auf die einzelne Lernerin, den einzelnen Lerner, die Isaac Asimov als ästhetische Erfahrung vermittelt, stellt eine besondere didaktische Herausforderung mit großen Lernerfolgschancen dar. Marie hasst den Roboter, der den Lehrer ersetzen soll – mit Recht! nicht also in der blinden Huldigung der Technik, sondern in ihrem kritisch-reflexiven Einsatz im Unterricht liegt die Möglichkeit, bei der Strukturierung des Lernprozesses die menschliche Komponente stets im Blick zu behalten. 

Ich habe diese Kurzgeschichte zum ersten Mal während meines Studiums gelesen. Seitdem gehört sie zum Repertoire meiner Lieblingstexte, handelt es sich doch um ein kleines Meisterwerk der Erzählkunst, dessen sprachästhetische Raffinesse nicht nur einen wahren Lesegenuss bildet, sondern vor allem auch dem Leser immer wieder ein nachdenkliches Schmunzeln über die angedeutete konstruktivistische Pointe zu entlocken vermag.  

 

 

 

 

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