Nachts schlafen die Ratten doch – zwei innere Monologe

Nachts schlafen die Ratten doch

Innerer Monolog des alten Mannes – Cosima (9a)

Nein, nein, nein, nein, NEIN.

Das kann nicht wahr sein. Wieso? Wieso holt mich das immer wieder ein? Die Vergangenheit sollte vergraben bleiben, genauso wie die Überreste meines toten Bruders. Dieser kleine Junge … erst neun Jahre alt. Wieso sage ich erst? Ich war auch neun als es passierte. Es wurde nie wieder drüber gesprochen, doch nun holen mich die drei verlorenen trostlosen Jahre wieder ein. Drei Jahre lang habe ich gewacht … habe versucht, zu verstehen was passiert ist … Nun bin ich 40 doch eigentlich 37, denn drei Jahre meiner Lebenszeit habe ich nicht gelebt. Ich war emotionslos, meine Gedanken kreisten nur darum meinen Bruder, der da unten lag, zu beschützen. Ich hätte jemanden gebraucht. Ich hätte jemanden gebraucht, der mir erklärt, dass ich meinen Bruder nicht mehr bewachen musste, dass dies nicht meine Verpflichtung sei. Jemanden, der mich aus meinem Loch geholt hätte und mir mein Leben wieder geschenkt hätte. Tag um Tag habe ich gewartet und gehofft. Gehofft auf Leben. Doch der Krieg war vorbei und es gab kein Leben. 1095 Tage habe ich gewartet. Gewartet auf einen Erlöser. Eines Tages kam ein Kleinkind vorbei. Es sah mich an, legte den Kopf schief und betrachtete mich. Aus kindlicher Neugier fragte es mich: „Du, du siehst traurig aus.“ Ich betrachtete das Kind nun eingehender. Man sah die Kriegsverletzungen an seinen Ärmchen. Die Fingerknöchel waren aufgesplittert und an einer Hand hatte er keine Finger mehr, da sie verbrannt waren. „Meine Mama hat immer gesagt, wenn es einem schlecht geht, soll man ihm Blumen schenken,“ sagte es und lief davon. Ich sah ihm nach. Mein Kopf war leer. Nachdem ein paar Minuten verstrichen waren, kam es wieder. In der Hand hielt es eine Blume. Wie lange habe ich wohl keine Blume mehr gesehen … Es legte mir die Blume in den Schoß und sah mich freudig an. Ich sah runter. Die Blume … sie sieht so lebendig aus. Bunt, strahlend, nach Pflege sehnend … so wächst sie vor sich hin.Wenn sie nicht gepflegt wird, welkt sie. Dieses kleine Leben berührte etwas in mir. Es war, als würde sich alles, was ich die drei Jahre verborgen gehalten habe, nach Außen kehren. Ich blickte auf, doch da war kein Kind mehr. Ich stand auf, die Blume fest in der Hand, warf einen letzten Blick auf die Trümmerruine hinter mir, wo ich immer meinen Bruder vermutete und ging, ohne einen letzten Blick zurück. Jetzt, so lange Zeit später das gleiche Bild zu sehen … einen kleinen Jungen ohne Hoffnung neben Trümmern, stieß einen Gedanken an.

Nein, nein, nein, nein, NEIN.

So wird es dieses mal nicht sein.

 Nachts schlafen die Ratten doch

Innerer Monolog des alten Mannes – Lisa (9a) 

Was für ein interessanter Junge. Ich hoffe ich hab ihm geholfen. Was er schon alles erlebt hat, mit seinen neun Jahren. Ich kann als alter und erfahrener Mann nicht mal den Tod meiner geliebten Frau verarbeiten, obwohl das schon über sieben Jahre her ist. War das mit der Lüge überhaupt in Ordnung? Ich wollte ihm helfen, aber wenn er jetzt die Antwort erfährt, vielleicht kann er das gar nicht mehr verarbeiten. Hatte ich überhaupt eine Wahl? Hätte ich guten Gewissens weg gehen können mit dem Wissen, dass ein neun-jähriger Junge nachts alleine in den Ruinen eines Hauses sitzt? Vielleicht wäre ihm etwas passiert, das hätte ich mir sicher nicht verzeihen können. Nein es war das Richtige in der Situation. Das Leben des kleinen Jürgen ist ein Scherbenhaufen. Krieg, so etwas sollte ein kleiner Junge nicht miterleben müssen, so etwas sollte niemand miterleben müssen. So viele Menschen mussten sterben aus der Ignoranz einiger Menschen heraus. Mütter verloren ihre Kinder, Männer ihre Frauen, Familien wurden auseinandergerissen und kleine Jungen verloren ihre Brüder. Er tut mir so leid. Was kann ich noch tun? Naja, mit der kleinen Elena wird er viel Freude haben. Ich habe das Kaninchen nach meiner geliebten Frau benannt und ich bin sicher, er wird sich gut um das Kleine kümmern. Aber auch als ich mit ihm bei seinen Eltern war, um ihnen zu erklären, wieso sie einen Kaninchenstall bauen sollen, habe ich gemerkt, dass sie sehr trauern. Ich denke, sie sind vollkommen traumatisiert. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt gemerkt haben, dass Jürgen nie da war. Verständlich ist es. Wie schlimm muss es sein, sein Kind zu verlieren. Nein, das würde ich nicht vertragen. Zwar Leben meine beiden Kinder weit weg, aber ich weiß, dass es ihnen gut geht. Wie könnte ich die Familie denn unterstützen? Sie brauchen Hilfe, ihr Haus aufzubauen, aber ich als alter Mann bin da keine große Hilfe. Sie brauchen Nahrung, aber ich hab selbst gerade genug, um zu überleben. Ich kann mich aber mit dem Jungen beschäftigen, vielleicht noch ein Kaninchen schenken, die sind nicht gern allein, aber wer ist das schon? Ja, das mach. Es gibt so viel zu tun. Nur gibt es leider auch andere Familien mit einem solch schlimmen Schicksal. Was kann man bloß machen? Ich bin so sauer auf einfach alle Verantwortlichen. Die sollten helfen und wenigstens annähernd versuchen in Ordnung zu bringen, was sie zerstört haben. Doch dies wird nicht passieren. Auch ich kann nicht allen Helfen, aber diesem Jungen. Ich will es versuchen. Ich will ihn zum Lachen bringen. Das ist mein Ziel.

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