Ich lerne, also bin ich – Was ist konstruktivistische Didaktik?

Oliver Cromwell (1599-1658), der Lordprotektor von England, Schottland und Irland während der kurzen republikanischen Periode der englischen Geschichte, war ein gefürchteter Staatsmann. Schließlich machte er König Karl I. nach dem Bürgerkrieg den Prozess und ließ ihn 1649 hinrichten.

Allerdings war Cromwell mitnichten nur ein Diktator. In die Geschichte eingegangen ist er vor allem auch als Mensch mit Visionen, von denen manche auch heute noch aktuell sind. Berühmt sind zahlreiche seiner Aphorismen, darunter der folgende: Wer aufgehört hat besser werden zu wollen, hat aufgehört, gut zu sein. Dieser Leitsatz liegt unserem didaktischen und pädagogischen Selbstverständnis am Raiffeisen-Campus zugrunde und regt uns dazu an, Unterricht permanent neu zu denken, weil wir gut bleiben wollen.

Die Schule von heute, das braucht hier nicht eigens betont zu werden, ist nicht mehr die Paukschule von ganz früher, auch wenn es manchmal schwerfallen mag, sich von manch liebgewonnenen Arbeitsformen zu trennen, vor allem dann, wenn sie erfolgreich gewesen sein sollen. Gewiss sind traditionelle Unterrichtsformen nicht per se schlecht – sogar der oft verschriene Frontalunterricht ist in gewissen Lernsituationen alternativlos –  heutigen Lernern bieten sie allerdings nur noch begrenzt die Möglichkeiten für einen selbstreflexiven Erwerb jener  Kompetenzen an, die diese in der Welt von morgen brauchen, in die wir sie im Idealfall nach dem Abitur entlassen möchten.

Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, unterrichten wir am Raiffeisen-Campus auch konstruktivistisch. Der Begriff Konstruktivismus klingt komplizierter als der Sachverhalt, den er beschreibt. Kurz gefasst lässt sich Konstruktivismus als selbstorganisiertes, prozessorientiertes Lernen definieren, das die Wahrscheinlichkeit, im Unterricht tatsächlich etwas zu lernen, deutlich erhöht. Der Unterschied zwischen konstruktivistischem und nicht konstruktivistischem Unterricht liegt nicht im Unterrichtsgegenstand, sondern in der Unterrichtsorganisation begründet.

Die Kunst des konstruktivistischen Lehrens besteht darin, Lernarrangements zu kreieren, die Lernende als Erwartungswiderspruch erleben und die sie folgerichtig zu einer Selbstorientierung einladen. Die Lerner werden neugierig und machen sich daran, diesen Widerspruch oder das Rätsel in den Lernarrangements über Versuch und Irrtum (trial and error) zu überwinden. Diese in der Umgangssprache als Ausprobieren bezeichnete Vorgehensweise ist in gewisser Hinsicht mit dem entdeckenden Lernen vergleichbar. Ziel dabei ist es, dass die Lernenden nicht bloß das Wissen als fertiges Produkt im Blick haben, sondern vor allem auch den Erkenntnisprozess selbst nachvollziehen und aktiv mitgestalten. In diese Forschungssituation hineinversetzt, zeigen die Lerner manche treffliche Beweise von selbständigem Nachdenken.

In einer konstruktivistisch organisierten Lernumgebung erfahren die Lernenden den Wissenserwerb nicht als etwas Gegebenes, was sie nur noch auswendig zu lernen brauchen, sondern als etwas (Re-)Konstruierbares, was ihre Neugier herausfordert und stimuliert. Lernpsychologisch ist längst erwiesen, dass sich ein Lerner viel besser mit dem identifiziert, was er selbst erarbeitet hat, als mit dem, was ihm als fertige Lösung vermittelt wurde. Dabei  verläuft die konstruktivistische Form des Wissenserwerbs weitgehend individuell, zum Teil subjektiv und unvorhersehbar entlang eines unabgeschlossenen Prozesses, bei dem die Lernenden jene selbstreflexive Schlüsselerfahrung machen, die Rolf Arnold in Anlehnung an den französischen Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschaftler Rene Descartes mit folgenden Worten treffend formuliert hat: Ich lerne, also bin ich. (Rolf Arnold). Lernen ist eine Form der Selbstvergewisserung durch Wissenszuwachs– nicht nur für Heranwachsende!

Wir fassen zusammen: Konstruktivistisch erworbene Kompetenzen haben nicht nur ein hohes Identifikationspotenzial mit den Lernergebnissen, sie sind vor allem auch flexibel und transferfähig. Gerade deshalb bereiten sie jedem Lernenden Freude und machen die klassische Form der Hausaufgaben weitgehend überflüssig.

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